Sehnsuchtsorte

     

Die Studienreisen von Mechthild Hempel

     

Still, wie unberührt liegt der Spiegel des Sees, nur zwei Enten, die hastig auf uns zu schwimmen, schneiden Kerben in diese Fläche wie ein Ornament. Ein W – wie ‚Wiedersehen'…

     

Mit diesen Worten enden die Aufzeichnungen des Reisetagebuches von Mechthild Hempel, welches sie im Jahr 1980 auf ihrer Jugoslawienreise begleitete. Die Künstlerin unternahm im Laufe ihres Lebens mehrere Reisen in das In- und Ausland. Welchen persönlichen Stellenwert derartige Exkursionen für sie hatten, wird anhand dieses Reisetagebuches deutlich. In beinahe lyrischen Ausführungen beschrieb Mechthild Hempel ihre Suche nach sehnsuchtsvollen Orten und glücklichen Momenten. Ihre Eindrücke hielt sie in detaillierten Beschreibungen und ausführlichen Skizzen fest, auf deren Grundlage sie später mehrere Landschaftsbilder gestaltete.

     

Auslandsreisen waren für Künstler der DDR nicht selbstverständlich. Den politischen Gegebenheiten geschuldet, waren traditionelle Ziele wie Italien für die wenigsten Künstler möglich. Dafür gab es oftmals organisierte Reiseangebote in die Länder des ehemaligen Ostblocks, wie z. B. in die mittel- und osteuropäischen Staaten Polen, die ČSSR, Ungarn, Bulgarien oder auch Jugoslawien. Die Berührung mit fremden Kulturen und beeindruckenden Landschaften bot zahlreiche Ansatzpunkte für die künstlerische Auseinandersetzung außerhalb des gewohnten Umfeldes. So auch für Mechthild Hempel. Ihre erste Studienreise führte sie 1972 an das Kaspische Meer nach Usbekistan. Von diesem Aufenthalt sind im Nachlass drei Zeichnungen erhalten. Zwei Blätter zeigen das Gur-Emi-Mausoleum in Samarkand (Abb. 01 u. 02), ein weiteres die Sher-Dor-Medresa (Abb. 03). Beide Bauwerke zählen noch heute zu den bedeutendsten Bauten Samarkands. Sie studierte die Architektur sehr sorgfältig und vermittelt dem Betrachter so einen charakteristischen Eindruck der dortigen orientalisch geprägten Baulandschaft.

 


Abb. 01


Abb. 03


Abb. 02


Abb. 04

Weitere Auslandsstudienreisen führten die Künstlerin in die UdSSR nach Leningrad (1973) (Abb. 04) nach Bulgarien (1975, 1981) und nach Südpolen (1985). Sowohl von Bulgarien, als auch von Südpolen befinden sich mehrere, nahezu expressive Landschaftsmalereien in ihrem Oeuvre (Abb. 05 bis 08). Besonders hervorzuheben ist der stimmungsvolle Einsatz der Farben. Durch die Verwendung unterschiedlicher Komplementärkontraste gelangte sie so zu intensiven und ausdrucksstarken Kompositionen.

Ihr Aufenthalt in Jugoslawien währte vom 30. September bis zum 11. Oktober 1980. Auf Grundlage der im Tagebuch festgehaltenen Skizzen lässt sich die Entstehung mehrerer Gouachen wunderbar nachvollziehen (vgl. Abb. 09 bis 11).

 

 


Abb. 05


Abb. 07


Abb. 06


Abb. 08

Die anfänglichen Eindrücke ihrer Reise beschrieb sie wie folgt:

Eine andere Welt, hier steht die Zeit still. Irgendwo unterwegs zwischen Zagreb und Sarajevo: die ansteigenden Berge (…) die Moscheen, Frauen in langen Gewändern (…) nun wächst die Landschaft ins unbeschreiblich Grandiose. Und der Bus rast mit uns auf schmalster kurviger Straße daher. Die überhängenden Felsen, die Schluchten, das grüne Wasser des Flusses. (…) majestätisch die Sonne hoch über allem, schlägt alles gnadenlos in ihren Bann. (…) Ein helles Band, eine helle rötlich-ocker getönte Kerbe dem Berg in die Flanke geschlagen.

 


Abb. 9 – 11

Derartig detaillierte Beschreibungen, die sich an zahlreichen Stellen der Aufzeichnungen finden lassen, dienten der Künstlerin ebenfalls als Fundus (vgl. Abb. 12 u.13). Ihre Reise führte sie auch nach Makarska, einer Küstenstadt an der Adria im heutigen Kroatien gelegen:

Ich fotografiere immerzu. Ich stehe fast nur noch irgendwie fest eingeklemmt (…) um in den Kurven nicht durch den ganzen Bus geschleudert zu werden und sehe, sehe, sehe. (…) Und dann überqueren wir das Biocovo Gebirge – und da ist die Landschaft die ich suchte, die kahlen Berge meiner Sehnsucht. (…) es dämmert. Die Sonne färbt den Himmel, – da ist die Adria. (…) Der Himmel zinnoberrot (…) Wechselnd die Silhouette der hügeligen Inseln, blau-schwarz, blau-schwarze Wolken ziehen im blutroten Himmel. (…) welch ein Wasser. Adria – Zauberort – es existiert keine Zeit, kein Vorher, kein Nachher. Mediterranea. Irgendwo hier ist der ‚Gott des glücklichen Augenblicks'. Ich wünsche er könnte mich berühren, mich erlösen.

 


Abb. 12


Abb. 13

Wie detailgetreu sie ihre eigenen Beschreibungen später bildhaft umsetzte, wird anhand der Gouache Adria am Abend nachvollziehbar (Abb. 14). Hier ist die soeben beschriebene stimmungsvolle Abendlandschaft bildhaft wiedergegeben.

Wie schön ist dieses Land (…). Weißgraue Felsen, dazwischen das Türkis der Agaven, noch und noch. [Abb. 15] (…) Die kleine weiße Treppe zwischen Felsen und Agaven. [Abb. 16] (…) Pinien streuen ihre brandroten Nadeln über den grauen Fels (…). Ein Blick vom hohen Steilufer hinunter – und dann der Augenblick wieder – jenseits des Wassers – Makarska zu unseren Füßen liegt. Ich weiß nicht mehr, in welchen Farben sich dieses Schauspiel darbot, ich weiß nur, dass ich hätte die Arme ausbreiten mögen und davonfliegen.

Die letzten Tage ihres Aufenthaltes verbrachte Mechthild Hempel im verregneten Split:

Der letzte Tag, – so wie der Himmel weint, möchte ich weinen. Hier soll ich gehen: Hier wo alles sich mir gibt, das Licht des Himmels, der Duft des Wassers, das Grün der Agaven, das Violett der Blüten vor dem Ockergrau des Biocovo, das Lächeln der schönen Mädchen, die Geschmeidigkeit der Knaben beim Tanz – und ihr Gesang – die Steine, weiß und glatt, legen sich liebkosend in meine Hand, die Feigenbäume stehn am Weg mit Früchten lockend. Palmen, Schiffe, Oleander, Zypressen. Zauberwelt (…) Märchenwelt (…). Alles nun Abschied. (…) Noch einmal und noch einmal sehn. Einbrennen in mich für alle Tage die kommen.

 


Abb. 14


Abb. 15


Abb. 16

Anhand dieser Worte wird spürbar, welche Bedeutung jene Reise – die Berührung mit der Fremde und der außergewöhnlichen Landschaft – für sie hatte. Doch nicht nur ferne, fremde Landschaften zogen die Künstlerin in ihren Bann. 1986 reiste sie gemeinsam mit ihrer in Hamburg lebenden Schwester auf die Insel Sylt und widmete sich malerisch der dortigen Küstenregion (Abb. 17). Auch mit der heimischen Ostseeküste setzte sie sich intensiv auseinander. So schuf sie in den 1980er Jahren zahlreiche Landschaftsbilder von Hiddensee und vom Fischland/Darß/Zingst. Das Bild Stille aus dem Jahr 1983 zeigt beispielsweise eine in Mondschein gehüllte Küstenszenerie in Zingst (Abb. 18). Das Motiv der nächtlichen Mondlandschaft lässt an bekannte Werke der Romantiker denken, die die nächtliche Landschaft als Sehnsuchtsort begriffen, als Symbol der Stille und Besinnung. Wie bereits die Romantiker auf ihren Wanderschaften, so war auch Mechthild Hempel auf ihren Reisen stets auf der Suche – auf der Suche nach sehnsuchtsvollen Orten und damit verbundenen beglückenden Augenblicken.

 


Abb. 17


Abb. 18

Andrea Kunath

(beschäftigt sich im Rahmen ihrer Masterarbeit intensiv mit
dem Schaffen Mechthild Hempels und erarbeitet aktuell
das Werkverzeichnis der Künstlerin)